Erinnerung und Gedenken in Radolfzell

Grundlagen und Leitlinien

Per Beschluss vom 23. Juni 2015 hat der Kulturausschuss der Stadt Radolfzell einen Leitsatz und sechs Leitlinien für zeitgeschichtliches Erinnern und Gedenken in der Stadt definiert. An diesen Grundsätzen orientiert sich die gesamte Erinnerungskultur in Radolfzell, die Geschichte für alle Bürgerinnen und Bürger lebendig, erfahrbar und sichtbar macht.

Der Leitsatz lautet: „Mit Verantwortung für Gegenwart und Zukunft gegen das Vergessen“

Die sechs Leitlinien wurden vom Arbeitskreis Erinnerungskultur entwickelt und auch in Zukunft fortlaufend auf ihre Aktualität hin geprüft. 

  1. Bei der Bearbeitung von Themen der Erinnerungskultur stehen immer Kommentieren und Erklären im Vordergrund, nicht Verschweigen und Entfernen.
  2. Städtische Erinnerungskultur leistet einen Beitrag dazu Spuren verschiedener Zeitgeschichten im Stadtbild zu erhalten und durch temporäre und dauerhafte Installationen im öffentlichen Raum die Stadt als Erinnerungsort – auch für Besucherinnen und Besucher der Stadt – sichtbar zu machen.
  3. Formate des Gedenkens sollten mit Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn verbunden sein.
  4. Der Anspruch der Radolfzeller Erinnerungskultur ist es, Kindern und Jugendlichen Geschichte erfahrbar zu machen.
  5. Insbesondere bei kritischen Sachverhalten werden Expertisen von WissenschaftlerInnen als unabhängige Meinung hinzugezogen.
  6. Die Leitlinien für die Kultur des Gedenkens und Erinnerns sind für Anregungen offen und tragen dazu bei, den öffentlichen Diskurs über zeitgeschichtliches Erinnern und Gedenken in der Stadt lebendig zu halten.
 

Arbeitskreis Erinnerung

Eine lebendige Erinnerungskultur lebt von der dauerhaften Vermittlung des kulturellen Erbes im täglichen Lebensumfeld der Bürgerinnen und Bürger. Dies in Radolfzell umzusetzen ist das Ziel des Arbeitskreises Erinnerung. Er wurde im Jahr 2010 auf Beschluss des Gemeinderats gegründet und besteht aus Vertretern der im Gemeinderat vertretenen Fraktionen und verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtverwaltung.

Die erste Aufgabe des Arbeitskreises war die Planung einer Erinnerungsstätte beim Radolfzeller Innovationszentrum (RIZ) und die Auseinandersetzung mit dem Kriegerdenkmal am Luisenplatz, das als Denkmal für gefallene Soldaten des ersten Weltkriegs während der NS-Zeit errichtet wurde und das immer wieder radikale Gruppen anzog. Die Gedenkstätte am RIZ wurde im Jahr 2013 umgesetzt und das Kriegerdenkmal inzwischen mit Informationstafeln zur besseren geschichtlichen Einordnung versehen. Im Oktober 2018 folgte der Beschluss des Gemeinderats zur Pflanzung von weißen Rosen der besonderen Züchtung „Friedenslicht“, um dem Denkmal sein martialisches Äußeres zu nehmen. Weitere Themen des Arbeitskreises Erinnerung sind die Benennung von Straßen nach wichtigen Persönlichkeiten und die Zusammenarbeit mit anderen Vereinen oder Initiativen bei Veranstaltungen, wie beispielsweise zur 80. Jährung der Reichspogromnacht am 9. November 2018.

Erinnerungswert! Kulturgeschichtlich interessante Grabstätten auf dem Waldfriedhof Radolfzell

Seit September 2022 gibt es auf dem Radolfzeller Waldfriedhof einen historischen Rundgang mit dem Titel „Erinnerungswert - Kulturgeschichtlich interessante Grabstätten“. Hier können stadthistorische sowie künstlerisch Grabmale und Grabstätten erkundet werden.

Unterstützt wurde diese Aktion durch die Werner und Erika Messmer-Stiftung und den Historiker und Stadtrat Christof Stadler.

Der ehemalige Schießstand der Waffen-SS im Altbohl

Für ihre militärische Ausbildung brauchte die Waffen SS-Unterführerschule Radolfzell (USR) einen Großkaliber-Schießstand, den es bis 1941 noch nicht gab. Davor fanden die Schießübungen auf dem Kasernenareal und dem angrenzenden Übungsgelände „Schafweide“ statt. 1938 wurde im Radolfzeller Stadtwald mit Erdarbeiten und baulichen Vorleistungen für einen Schießstand begonnen. Mit Kriegsbeginn 1939 und nach Abzug der SS-Verfügungstruppe „Germania“ musste der Weiterbau aber unterbrochen werden.

1940 verkaufte die Stadt Radolfzell das Areal an das Deutsche Reich – SS-Hauptamt Haushalt und Bauen. 1941/1942 wurde die große Schießanlage im Altbohl mit drei Langbahnen, drei Kurzbahnen, einem gestaffelten Kugelfang, einem Schießscheibenbunker und einem massiv gemauerten Haus gebaut. Für die Fertigstellung verfügte das zuständige  SS-Hauptamt in Berlin den Arbeitseinsatz  von KZ-Häftlingen. Beim Bau des SS-Schießstandes im Gewann Altbohl kamen bis zu 120 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Dachau zum Einsatz. Das in der SS-Kaserne untergebrachte Häftlingskommando hatte schwere Arbeit ohne adäquate Arbeitsgeräte zu verrichten, die Arbeitsbedingungen waren von der schikanösen Behandlung des SS-Wachpersonals geprägt, ihre Lebensbedingungen durch Hunger, menschenunwürdige Unterkunft, unzureichende Bekleidung und schlechte medizinische Versorgung. Es gab mehrere Fluchten und vereitelte Fluchtversuche. Eine Häftlingserschießung ist bislang gesichert nachzuweisen. Es handelt sich um Jakob Dörr, der im November 1941 bei einem angeblichen „Fluchtversuch“ auf dem Schießstand von einem SS-Wachposten  hinterrücks erschossen wurde.

Seit ihrer Fertigstellung im August 1942 bis Kriegsende 1945 wurde der Schießstand  von der USR zur Ausbildung an Großkaliberwaffen genutzt. Die Französischen Streitkräfte, die im Mai 1945 in die ehemalige SS-Kaserne einzogen, übernahmen und unterhielten den Schießstand mit den Bahnen und sonstigen Gebäulichkeiten ohne substantielle Veränderungen bis zu ihrem Abzug 1977. Heute finden sich auf dem ursprünglich 83.926 m² großen Areal noch die in Ausmaß und Substanz erkennbaren und erhaltenen Überreste des ehemaligen SS-Schießstands Radolfzell.

Dank einer Initiative engagierter Radolfzeller Bürger konnte an dem von KZ-Häftlingen erbauten SS- Schießstand ein Ort des Erinnerns entstehen, vervollständigt durch die 2012 dort aufgestellte Erinnerungstafel. Neben der ehemaligen SS-Kaserne erscheint der SS-Schießstand in der Liste der Gedenkstätten Baden-Württemberg.

Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Straße

Durch die prämierte Schülerarbeit von Max Uhlemann, „Weiße Schrift auf blauem Grund“, wurde das Thema Straßennamen und deren historischen Hintergrund in Radolfzell öffentlich wahrgenommen. Nach intensiver Auseinandersetzung konnte der Arbeitskreis Erinnerungskultur mit der Konstanzer Historikerin Heike Kempe im März 2022 einen bedeutsamen historischen Meilenstein setzen: Die Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Straße in Magnolienstraße. Im Beisein der Anwohnerinnen und Anwohner sowie Bürgermeisterin Monika Laule brachten die Mitarbeiter der Stadt Radolfzell die neuen Straßenschilder an. Darüber hinaus pflanzten sie an der Ecke zur Altbohlstraße eine Magnolie. In ihrer Ansprache dankte Monika Laule der Konstanzer Historikerin Heike Kempe, die die Stadtverwaltung mit Fachwissen unterstützt hat, sowie den Mitgliedern des Arbeitskreises Erinnerungskultur, die sich in der Vergangenheit für die Umbenennung der Straße eingesetzt hatten. Für den Namen Magnolienstraße sprach sich bei einer Abstimmung die Mehrheit der Anwohner aus. Vorgabe der Stadtverwaltung war, einen Namen aus dem Bereich „Bäume, Hecken, Gewächse“ auszuwählen.

Der preußische General Paul von Lettow-Vorbeck gilt nach heutigen Erkenntnissen als brutaler und menschenverachtender Vertreter des deutschen Imperialismus. Unter anderem war er als Adjutant des Generals Lothar von Trotha im Jahr 1904 am Völkermord an über 60.000 Männern, Frauen und Kindern der Herero und Nama in „Deutsch-Südwest-Afrika“ (heute Namibia) beteiligt.